Straße der Jugend 33
D-03050 Cottbus
Mobil: 0173/9738850
Telefon: 0355/29021741
info@olaf-klemke.de
0173 973 88 50
Sollten Sie verhaftet oder Ihre Wohn- und Geschäftsräume durchsucht werden, stehe ich Ihnen zu jeder Tages- und Nachtzeit unter dieser Nummer zur Verfügung.
Zusammen mit meinem Dresdner Berufskollegen Hansjörg Elbs verfasste ich das im C.F.Müller Verlag veröffentlichte Fachbuch „Einführung in die Praxis der Strafverteidigung“, 2. Auflage 2010 (Link), das voraussichtlich im Herbst 2012 in dritter Auflage erscheinen wird. Mit freundlicher Genehmigung des C.F.Müller Verlages (Link) nachfolgende Leseprobe.
426Die Frage, ob sich der Mandant schweigend oder redend verteidigen soll, ist in jedem Verfahren die wichtigste, weil Weichen stellende, aber zugleich die schwierigste Entscheidung der Verteidigung. Sie sollte niemals aus dem Bauch heraus, sondern allein aufgrund rationaler Kriterien erfolgen. Der Verteidiger darf hier keineswegs dem Drängen des Mandanten nachgeben, welcher sich – menschlich nur zu verständlich – regelmäßig durch Gegenrede gegen den erhobenen Tatvorwurf zur Wehr setzen möchte. Auch kann er keinesfalls Alltagstheorien über das Schweigen des Beschuldigten zur Richtschnur seines Handelns machen. Erstaunlich ist, dass selbst hoch angesehene Verteidigerkollegen derartige Alltagstheorien in ihre Entscheidung, ob sich der Mandant redend oder schweigend verteidigen sollte, einfließen lassen.
427Dahs bspw. meint, dass schweigende Angeklagte in deutschen Gerichtssälen noch immer Ausnahmeerscheinungen seien und oft Erstaunen oder sogar Ärger hervorrufen würden. Das Schweigen wirke wie ein Schuldeingeständnis, weil nach der Lebenserfahrung sich ein Mensch redend verteidige. Nach richterlicher Erfahrung würden nur schuldige Angeklagte von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen. Die Verweigerung der Aussage wirke zudem wie eine „Kampfansage“, die das Verhandlungsklima negativ beeinflusse.1 Schlothauer bezweifelt, ob die Annahme von Dahs heute noch zutrifft. Schweigende Angeklagte seien schon lange keine Ausnahme mehr und gehörten zumindest vor großstädtischen Gerichten zum typischen Erscheinungsbild. Aber auch er rät, dass der Verteidiger derartige Alltagstheorien über das Schweigen des Angeklagten bei der Abwägung der Vor- und Nachteile einer Äußerung zur Sache berücksichtigen müsse.2
428Derartige Vorurteile dürfen bei der Entscheidung, ob der Mandant aussagen sollte, nicht in Betracht gezogen werden. Im Mittelpunkt der Überlegungen des Verteidigers hat das Gesetz zu stehen. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO garantiert dem Beschuldigten das Recht, sich nicht zur Sache zu äußern. Nach stRspr. des BGH dürfen aus dem Schweigen des Beschuldigten weder unmittelbar noch mittelbar nachteilige Schlüsse gezogen werden.3 Das Schweigerecht würde nämlich völlig entwertet, wenn der Beschuldigte negative Konsequenzen deshalb befürchten müsste, weil er sein Recht in Anspruch nimmt. Bei dem vom BGH anerkannten Beweisverbot handelt es sich um ein „Beweisthemenverbot“. Der Umstand, dass sich der Beschuldigte nicht äußert und sich damit einer aktiven Mitwirkung an der Aufklärung des Sachverhaltes entzieht, darf nämlich als solcher in keiner Weise vom Richter beachtet werden.4 Anders als Dahs meint, steht dem auch nicht die Pflicht des Richters zur freien Beweiswürdigung entgegen.5 Diese wird nämlich durch Beweisverwertungsverbote und damit von dem in § 136 Abs. 1 S. 2 StPO enthaltenen Beweisthemenverbot beschränkt.
429Es ist folgender Grundsatz aufzustellen: Der Mandant sollte vom Schweigerecht Gebrauch machen. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn „Rechtfertigungsgründe“ von erheblichem Gewicht vorliegen. Eine solche Rechtfertigung für den Verzicht auf das Schweigen kann nur darin liegen, dass es allein durch eine Äußerung zur Sache möglich ist, das Verfahrensergebnis für den Mandanten günstiger zu gestalten als durch eine Berufung auf das Schweigerecht. Sie beschränkt sich i.d.R. auf Fälle der reinen Strafmaßverteidigung. Gleiches gilt, wenn sich der Mandant auf einen Rechtfertigungsgrund berufen möchte, für den es sonst keinerlei Beweise, auch keine Beweisanzeichen, gibt. Bereits die Strategie, den Tatvorwurf „herunterzudefinieren“, also einen Schuldspruch wegen einer geringfügigeren Gesetzesverletzung als der angeklagten zu erreichen, zwingt die Verteidigung fast ausnahmslos, den Mandanten zum Schweigen anzuhalten.
430Der hier vertretene Grundsatz beruht auf der Erwägung, dass sich der Beschuldigte niemals ohne Not zum Beweismittel gegen sich selbst machen sollte.6 Dem wiederum liegt die Erkenntnis zugrunde, dass eine Einlassung des Beschuldigten einen verhängnisvollen psychologischen Prozess bei dem Richter auslöst. Der erkennende Richter prüft im Zwischenverfahren anhand der Aktenlage den für die Zulassung der Anklage erforderlichen hinreichenden Tatverdacht. Bejaht er diesen, hält er also eine Verurteilung des Angeschuldigten für wahrscheinlich,7 nimmt er – bewusst oder unbewusst – Partei für den Anklagevorwurf und gegen den Angeklagten. Diese „Vorprägung“ durch das Zwischenverfahren führt dazu, dass der Richter in der Hauptverhandlung die erhobenen Beweise und damit auch eine etwaige Äußerung des Angeklagten zur Sache einseitig in Richtung auf die Bestätigung des Anklagevorwurfes hin verzerrt würdigt. Grund hierfür ist, dass Informationen, die den Anklagevorwurf bestätigen („konsonante“ Informationen), vom Richter systematisch überschätzt, entlastende (und damit „dissonante“) Informationen ebenso systematisch unterschätzt werden.8 Verstärkt wird dieser dem Angeklagten nachteilige psychologische Prozess dadurch, dass der Richter bevorzugt nach solchen Informationen sucht, welche die von ihm übernommene Anklagehypothese bestätigen. Solche bestätigende Informationen sind jedoch nicht nur konsonante, sondern auch widerlegbare und deshalb ebenfalls bestätigend wirkende dissonante Informationen.9 Hinzu kommt, dass der deutsche Richter diese Informationen nicht nur passiv „sucht“. Da der Vorsitzende gem. § 238 Abs. 1 StPO den Angeklagten vernimmt und die Beweise erhebt, gerät er durch seine inquirierende Tätigkeit vollends in die Rolle des Anklägers.
431Was bedeutet dies aber alles für die Beantwortung der Frage, ob sich der Beschuldigte redend oder besser schweigend verteidigen sollte? Lässt sich der Angeklagte in der Hauptverhandlung bestreitend zur Sache ein, handelt es sich hierbei um „dissonante“ Informationen. Der Richter wird diesen Informationen, da sie seiner Sinnerwartung entgegenstehen, tendenziell weniger Gewicht beimessen, als den Tatvorwurf bestätigenden Informationen. Aus diesem Grund wird die Äußerung des Angeklagten schnell als „Schutzbehauptung“ abqualifiziert.
432Schlimmer noch: Der Richter wird bereits bei der Vernehmung des Angeklagten versuchen, dessen Äußerung zur Sache durch Nachfragen und Vorhalte tatsächlich oder vermeintlich zu widerlegen, und sei es nur in am Rande liegenden Detailfragen. Die Widerlegung von Teilen der Einlassung ermöglicht es ihm jedoch nicht nur, sie gänzlich als erlogen zu behandeln. Vielmehr gestattet sie ihm, diese Widerlegung der Einlassung als „konsonante“ Information zu behandeln. Zwar darf der Richter nach der stRspr. des BGH seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten nicht allein darauf stützen, dass dessen Einlassung widerlegt ist. Zu Recht betont der BGH, dass schließlich auch der Unschuldige zur Lüge Zuflucht nehmen könne.10 Nur: Ein erfahrener Richter wird auch ein Urteil, welches auf der Widerlegung von Teilen der Einlassung des Angeklagten beruht, „revisionssicher“ begründen. Die tatrichterliche Beweiswürdigung unterliegt der revisionsgerichtlichen Kontrolle schließlich nur sehr eingeschränkt. Die tatrichterlichen Schlüsse müssen nur möglich, nicht jedoch zwingend sein.11
433Die vorstehenden Ausführungen stehen mit einem weiteren Nachteil für den Beschuldigten im engen Zusammenhang: Die objektive Beweislage gerät in den Hintergrund. Anstatt auf sie richtet sich die Aufmerksamkeit des Richters in erster Linie auf die Glaubwürdigkeit des Angeklagten.
434Eine Einlassung der Beschuldigten hebelt weiterhin tendenziell den zu seinen Gunsten streitenden Zweifelssatz aus. Durch seine Äußerung bezieht der Beschuldigte Stellung; er legt sich auf eine bestimmte Sachverhaltsvariante fest. Damit werden Zweifel eher beseitigt als verstärkt. Nur indem der Beschuldigte sein Schweigerecht wahrnimmt, kann der Zweifelssatz i.d.R. seine volle Wirkung entfalten.
435Schließlich: Durch seine bestreitende Einlassung macht sich der Angeklagte zum geistigen Widerpart des Richters. Er bietet dem Richter durch sein Bestreiten offen die Stirn. Besser ist es, wenn der Verteidiger die Rolle des „Prellbocks“ übernimmt, indem er die Vorprägung des Richters durch die offensive Nutzung der Kardinalrechte der Verteidigung in der Hauptverhandlung zu erschüttern versucht, nämlich: das Beweisantragsrecht und das Fragerecht.12
436Das Verbot des Zwanges zur Selbstbezichtigung wurzelt in dem Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. Deshalb dürfen aus dem Schweigen des Beschuldigten keinerlei Schlüsse zu seinem Nachteil gezogen werden.13 Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Beschuldigte vollständig zum Tatvorwurf schweigt. Dieser Grundsatz verbietet es auch, zu Lasten des Beschuldigen zu berücksichtigen, dass dieser erst in der Hauptverhandlung zur Sache aussagt, nachdem er zuvor von seinem Schweigerecht Gebrauch machte.14 Sonst wäre der Beschuldigte gezwungen, bereits in seiner ersten Vernehmung Angaben zur Sache zu machen. Es liegt auf der Hand, dass dies mit der verfassungsrechtlichen Selbstbelastungsfreiheit nicht zu vereinbaren wäre.
437Nichts anderes kann gelten, wenn der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren aussagt und in der Hauptverhandlung schweigt. Allerdings hat der Verteidiger zu berücksichtigen, dass die Angaben des Beschuldigten im Ermittlungsverfahren trotz dessen späteren Schweigens in die Hauptverhandlung eingeführt werden dürfen, nämlich durch Vernehmung der Verhörsperson und Verlesung richterlicher Vernehmungsprotokolle gem. § 254 Abs. 1 StPO. In solch einem Fall kann bei belastenden Aussagen des Angeklagten im Ermittlungsverfahren allenfalls noch ein Beweisverwertungsverbot helfen. Der Verteidiger muss sich jedoch darüber im Klaren sein, dass nach der stRspr. des BGH Verfahrensfehler nachgewiesen werden müssen. Der Zweifelsatz soll hier nicht gelten.15
438Vollständiges Schweigen des Beschuldigten bedeutet jedoch nicht das Unterlassen jedweder Äußerung. Ein dem Schweigen entsprechendes Aussageverhalten liegt nach der Rspr. in folgenden Fällen vor:
439- Pauschales Bestreiten des Tatvorwurfes, etwa durch die Erklärung des Angeklagten, er sei unschuldig,
- Angaben ausschließlich zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen,
- Angaben, die sich ausschließlich auf den Rechtsfolgenausspruch beziehen;
jedoch nicht bei „doppelrelevanten“ Äußerungen.16
440Diese dem schweigenden Angeklagten begünstigende Rspr. kann die Verteidigung zu ihrem Vorteil nutzen. Sie kann durch einen pauschalen Hinweis darauf, dass der schweigende Angeklagte den Tatvorwurf zurückweist, vor allem die Laienrichter psychologisch im Sinne des Angeklagten beeinflussen. Eine solche „klare Ansage“ ermöglicht es der Verteidigung, die Schöffen auf eine konsequente Freispruchverteidigung einzustimmen und dem Mandanten gleichzeitig die mit der Verweigerung der Aussage verbundenen Vorteile zu sichern.
441Muster 39:Verteidigererklärung zur Ausübung des Schweigerechts durch den Angeklagten:
- „Herr . . . macht von seinem Schweigerecht Gebrauch. Er hat mich jedoch ermächtigt, in seinem Namen Folgendes zu erklären: Ich bin unschuldig!“
- „Herr . . . weist den Anklagevorwurf strikt zurück. Des Weiteren macht er von seinem Schweigerecht Gebrauch.“
a) Verteidigererklärungen in der Hauptverhandlung
442Gibt der Verteidiger des schweigenden Angeklagten in der Hauptverhandlung Erklärungen tatsächlicher Art ab, sind diese nicht ohne weiteres dem Angeklagten als eigene Einlassung zuzurechnen.17 Der Vorsitzende hat vielmehr den Angeklagten zu befragen, ob er die Äußerung seines Verteidigers als eigene Einlassung verstanden wissen will. Nur wenn der Angeklagte dies ausdrücklich bestätigt, kann die Erklärung als seine eigene Einlassung verwertet werden. Der Verteidiger ist nämlich nicht Vertreter des Angeklagten, sondern sein Beistand.18 Schweigt der Angeklagte auf die Frage des Vorsitzenden, kann ihm die Verteidigererklärung ebenfalls nicht zugerechnet werden. Nach dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit muss der Beschuldigte nämlich in keiner Weise zur Sachverhaltsaufklärung beitragen. Er kann vielmehr völlig passiv bleiben. Dieser Grundsatz gilt ausnahmslos, daher auch, soweit die Frage zu klären ist, ob sich der Beschuldigte eine Erklärung seines Verteidigers in der Hauptverhandlung zurechnen lassen will.19 Eine Befragung des Angeklagten ist entbehrlich, wenn der Verteidiger von sich aus darauf hinweist, dass die von ihm abgegebene Erklärung keine Einlassung seines Mandanten darstelle.
443Ebenfalls entbehrlich ist die skizzierte Verfahrensweise, also die Befragung des Angeklagten durch den Vorsitzenden, ob er sich die Erklärung seines Verteidigers zu eigen mache, wenn der Verteidiger – ohne überschießende Angaben tatsächlicher Art zu machen – lediglich im Rahmen seines Erklärungsrechtes nach § 257 StPO einen soeben erhobenen Beweis würdigt. Insoweit entspricht die Wahrnahme des Erklärungsrechtes nämlich strukturell der Beweiswürdigung im Rahmen des Schlussvortrages. Jede andere Sichtweise liefe letztendlich in eine Verletzung des verfassungsmäßigen Anspruches des Angeklagten auf rechtliches Gehör hinaus.
b) Erklärungen tatsächlicher Art im Verteidigerschriftsatz
444Tatsächliche Äußerungen, die in Schriftsätzen des Verteidigers enthalten sind, dürfen dem Beschuldigten ebenfalls nicht als eigene Einlassung zugerechnet werden. Dies gilt auch dann, wenn der Verteidiger in ihnen für sich in Anspruch nimmt, Angaben des Mandanten wiederzugeben. Als Einlassung dürfen nur Schriftstücke verwertet werden, die vom Angeklagten selbst verfasst sind.20
c) Beweisbehauptungen als Äußerung zur Sache?
445Die in Beweisanträgen des Verteidigers enthaltenen Beweisbehauptungen dürfen nicht in Einlassungen des Angeklagten umgedeutet werden. Sonst würde dem schweigenden Angeklagten das Recht abgeschnitten werden, über seinen Verteidiger Beweisanträge stellen zu lassen.21 Nichts anderes kann gelten, wenn der Angeklagte selbst Beweisanträge stellt.
446Für den Beschuldigten in jedem Falle gefährlich ist hingegen das sog. „Teilschweigen“. Solches liegt vor, wenn der Beschuldigte sich zu einigen Umständen einer Tat im prozessualen Sinne gem. § 264 StPO äußert, zu anderen hingegen nicht. Diese nur teilweise Einlassung darf umfassend und in jeder Beziehung gewürdigt werden. Die Rspr. begründet dies damit, dass der Angeklagte, welcher sich nach Belehrung über sein Recht, die Aussage zu verweigern, zur Sache äußert, damit zum Beweismittel macht.23 Daher darf nicht nur der Inhalt, sondern auch der Umfang der Einlassung und damit das gesamte Aussageverhalten des Beschuldigten in die Beweiswürdigung einbezogen werden. Schweigt der sich einlassende Beschuldigte auf einzelne Fragen, muss er daher damit rechnen, dass dieses Schweigen als Beweisanzeichen zu seinen Lasten gewertet wird. Von einem derartigen Aussageverhalten ist daher dringend abzuraten.
a) Weiterer Grundsatz: Vorherige Akteneinsicht
447Der Zeitpunkt einer Äußerung zur Sache hängt von den Umständen des Einzelfalles sowie dem Ziel und der Strategie der Verteidigung ab. Ein Grundsatz gilt jedoch unangefochten: Jede Einlassung vor vollständiger Akteneinsicht und eingehender Erörterung des Akteninhaltes mit dem Mandanten ist ein kapitaler Kunstfehler. Mit einer solchen Äußerung ins Blaue hinein offenbart man im schlimmsten Fall bis dahin unbekanntes Belastungsmaterial. Im besten Fall laufen die vorgebrachten Verteidigungsargumente mangels Erheblichkeit ins Leere. Dazwischen ist die gesamte Bandbreite möglicher Desaster denkbar. Daher muss der unbedingte Rat an den Mandanten lauten, bis zur Gewährung von Akteneinsicht jegliche Angaben zur Sache zu unterlassen.
b) Äußerung im Ermittlungs- und Zwischenverfahren
448Zu fragen ist, ob durch eine Einlassung im Ermittlungsverfahren eine Anklageerhebung vermieden werden kann. Dies ist denkbar, wenn eine Einstellung nach §§ 153, 153a StPO im Raum steht. Hier kann ein umfassendes und reumütiges Geständnis den Weg zu einer Verfahrenseinstellung ebnen. Die Umstände, die eine Einstellung wegen geringer Schuld oder gegen Erteilung von Auflagen nahe legen, werden sich jedoch regelmäßig auch ohne eine Einlassung aus den Akten ergeben. Durch ein Bestreiten des Tatvorwurfs wird hingegen eine Verfahrenserledigung aus Opportunitätsgesichtspunkten i.d.R. nicht gefördert werden. Ein Geständnis ist dann zwingend vor der Eröffnung des Hauptverfahrens abzulegen, wenn sich der Mandant damit nach § 46b StGB Strafmilderung oder sogar ein Absehen von Strafe verdienen will (§ 46b Abs. 3 StGB). Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens mangels hinreichenden Tatverdachts gem. § 170 Abs. 2 StPO ist durch eine Einlassung zur Sache kaum zu erreichen. Begründen die von der StA ermittelten Beweise einen die Anklageerhebung rechtfertigenden Tatverdacht, wird dieser regelmäßig durch eine bloße Einlassung nicht zu erschüttern sein. Die Erhebung der öffentlichen Klage lässt sich weitaus wirksamer durch das Stellen entlastender Beweisanträge verhindern, so dass es einer Äußerung zur Sache daneben nicht bedarf.24 Auch im Zwischenverfahren ist dem von der Staatsanwaltschaft angenommenen hinreichenden Tatverdacht jedenfalls mit einer Einlassung zur Sache nicht wirksam zu begegnen.
c) Äußerung in der Hauptverhandlung
449Entscheiden sich der Angeklagte und seine Verteidigung zu einer Sacheinlassung im Rahmen der Hauptverhandlung, muss diese nicht sogleich nach der Belehrung des Angeklagten über seine Aussagefreiheit erfolgen. Vielmehr kann die Verteidigung eine Äußerung des Mandanten durchaus aus taktischen Erwägungen zurückstellen. So ist es bspw. denkbar, die Aussage eines wichtigen Belastungszeugen abzuwarten, dessen Inhalt nicht vorab verlässlich einzuschätzen ist, um die von diesem Zeugen vorgebrachten Belastungsmomente mit der Einlassung entkräften bzw. angreifen zu können. Ratsam ist dies jedoch nicht. Eine Einlassung ist grundsätzlich nicht geeignet, belastende Beweismittel zu erschüttern. Das Gericht wird nur zu gern den Angaben des Belastungszeugen folgen und die bestreitende Einlassung als „Schutzbehauptung“ abtun. Einzig und allein das Bemühen, Widersprüche in der Zeugenaussage selbst oder zwischen ihr und anderen Beweisergebnissen durch eine engagierte Nutzung des Fragerechtes aufzudecken oder das Anbringen von Beweisanträgen zur Widerlegung von Angaben des Belastungszeugen werden den Prozess zugunsten des Mandanten beeinflussen.
450Auch ein beabsichtigtes Geständnis des Mandanten ist nicht immer optimal, wenn es vor der Beweisaufnahme abgelegt wird. Es gibt nicht nur zu späte, sondern ebenso zu frühe Geständnisse. Gerade wenn ohne ein Geständnis eine umfangreiche Beweisaufnahme droht, kann die Verteidigung den Druck auf das Gericht wirksam erhöhen, wenn sie zunächst „streitig anverhandelt“ und dabei „alle Register zieht“. Wird intern eine verfahrensbeendende Absprache angestrebt, kann eine Strategie der vorherigen Abschreckung zu unverhofft günstigen Verfahrensergebnissen führen. Allerdings muss die Verteidigung berücksichtigen, dass sie den „point of no return“ nicht erreichen darf, ab dem Gericht und Staatsanwaltschaft zu einer Absprache unter keinen Umständen mehr bereit sind.
451In Verfahren um den Vorwurf des sexuellen Missbrauchs oder der Vergewaltigung kommt die soeben skizzierte Verfahrensweise kaum in Betracht. Gericht und Staatsanwaltschaft werden zu einem „Deal“ nur dann bereit sein, wenn der Mandant ein Geständnis so früh ablegt, dass dem Tatopfer die Vernehmung und das damit verbundene erneute Durchleben der Tat erspart wird.25
a) Äußerung im Ermittlungsverfahren
452Herkömmlicherweise wird der Verteidiger im Ermittlungsverfahren eine Sacheinlassung in einem Schriftsatz an die StA abgeben. Der Schriftsatz selbst darf in einer etwaigen späteren Hauptverhandlung nicht als Urkunde verlesen werden, da der Verteidiger nicht Vertreter, sondern Beistand des Mandanten ist. Etwas anderes gilt allerdings dann, wenn der Verteidiger zum Zustandekommen des Schriftsatzes als Zeuge vernommen worden ist und bestätigt hat, dass die in seinem Schriftsatz enthaltenen tatsächlichen Angaben auf Mitteilungen des Mandanten beruhen. Da der Beschuldigte seinen Verteidiger in aller Regel jedoch nicht von der anwaltlichen Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbinden und dieser daher die Aussage nach § 53 Abs. 1 Nr. 2 StPO verweigern wird, handelt es sich hierbei um eine sehr theoretische Möglichkeit.
453Soll der Beschuldigte im Ermittlungsverfahren persönlich aussagen, muss der Verteidiger unbedingt an der Vernehmung teilnehmen, ganz gleich, ob es sich um eine polizeiliche, staatsanwaltliche oder richterliche handelt. Nur durch den Beistand in der Vernehmung kann der Verteidiger deren Fairness und Ergebnisoffenheit sichern und die Rechte des Mandanten wahren. Der Verteidiger muss vor dem Vernehmungstermin umfassende Akteneinsicht bekommen und die Akten bis ins Detail studiert haben. Auch der Mandant sollte in aller Regel den Akteninhalt in allen Einzelheiten kennen. Der Verteidiger muss seinen Mandanten auf die Vernehmung intensiv vorbereiten. Insbesondere hat er mit ihm alle möglichen zu erwartenden Fragen und Vorhalte zu besprechen, damit der Mandant von diesen nicht in der Vernehmung überrascht wird. Der Verteidiger sollte dies durchaus in einem Rollenspiel tun, in dem er den Vernehmer verkörpert. Dies wird dem Mandanten plastisch Schwachstellen und Lücken in der geplanten Aussage vor Augen führen.
454In der Vernehmung selbst hat der Verteidiger auf eine ordnungsgemäße Belehrung des Mandanten sowie auf eine möglichst konkrete Eröffnung des Tatvorwurfes zu achten. Er wird sein Augenmerk darauf zu richten haben, dass dem Mandanten die Möglichkeit gegeben wird, zunächst ohne störende Zwischenfragen im Zusammenhang auszusagen. Er hat darauf zu achten, dass die sich hieran anschließenden Fragen suggestionsfrei gestellt und Vorhalte korrekt gemacht werden. Unfaire Fragen und Vorhalte hat er zu beanstanden und seinem Mandanten den Rat zu erteilen, hierauf nicht zu antworten. Der Verteidiger muss darauf achten, dass die Aussage des Mandanten sowie Fragen, Vorhalte und Beanstandungen möglichst wörtlich protokolliert werden. Er hat nachhaltig hierauf zu drängen. Wird eine unfaire Gestaltung der Vernehmung oder ihrer Protokollierung trotz seiner Intervention nicht abgeändert, hat er seinem Mandanten zu raten, nunmehr von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen und sollte auf einen Abbruch der Vernehmung drängen. Er hat dafür zu sorgen, dass auch diese Vorgänge aktenkundig gemacht werden. Nach der Vernehmung muss er die Niederschrift gemeinsam mit dem Mandanten genauestens prüfen und auch kleinste Unrichtigkeiten beanstanden. Auch dies muss aktenkundig gemacht werden. Korrigiert der Vernehmende auf Beanstandung hin Fehler der Niederschrift nicht, hat der Verteidiger seinem Mandanten zu raten, diese nicht zu unterzeichnen.
b) Äußerung in der Hauptverhandlung
455Vor allem in der Hauptverhandlung stellt sich die Frage, auf welche Art und Weise eine Sacheinlassung des Mandanten eingeführt werden soll. Grundsätzlich bestehen drei Möglichkeiten, eine Äußerung des Angeklagten zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen:
456- Persönliche Vernehmung des Mandanten;
- Abgabe einer vorbereiteten Erklärung durch den Mandanten oder den Verteidiger;
- Einführung der Sacheinlassung durch Urkundenbeweis.
aa) Persönliche Vernehmung des Angeklagten
457Genauso schwierig und zugleich entscheidend wie die Frage, ob überhaupt eine Stellungnahme zur Sache erfolgt, ist diejenige, ob sich der Angeklagte persönlich in der Hauptverhandlung zur Sache einlässt. Dem Mandanten ist hiervon in aller Regel abzuraten. Die wenigsten Angeklagten sind in der Lage, sich in einer Vernehmung erfolgreich zu behaupten. Den meisten Mandanten mangelt es bereits an der Gabe, beim freien Vortrag Wesentliches vom Unwesentlichen zu trennen. Dies wird auch die beste Vorbereitung des Mandanten auf die Vernehmung nicht vollständig neutralisieren können. Zudem fehlt es vielen Mandanten an dem Geschick, sich sprachlich adäquat auszudrücken, sich also „gut zu verkaufen“. Barrieren sind hier nicht nur der Bildungsstand des Mandanten, sondern auch dessen persönliche Eigenarten. Schließlich ist die psychische Ausnahmesituation zu berücksichtigen, in welcher sich der Mandant in der Hauptverhandlung befindet, gleichsam auf dem „Präsentierteller“ der Öffentlichkeit.
458Entschließt sich der Verteidiger dennoch nach reiflicher Überlegung, seinen Mandanten in das Fegefeuer einer Vernehmung in öffentlicher Hauptverhandlung zu schicken, hat er dessen Auftritt akribisch vorzubereiten. Vollständige Aktenkenntnis und – hierauf basierend – eine umfassende vorherige Klärung und verbindliche Festlegung des Inhaltes der Aussage des Mandanten verstehen sich von selbst, reichen jedoch nicht aus. Verteidiger und Mandant sollten sich gründlich auf zu erwartende inquisitorische Fragen und Vorhalte seitens des Gerichtes und des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft vorbereiten. Hier hat der Verteidiger als „advocato diaboli“ dem Mandanten – auch in drastischer, überzeichneter Form – Schwachstellen in dessen Einlassung vor Augen zu führen und ihn so zu befähigen, befriedigend Rede und Antwort zu stehen.
459Der Verteidiger muss – wie schon bei der Beschuldigtenvernehmung im Ermittlungsverfahren ausgeführt – auf eine faire Gestaltung der Vernehmung achten. Insbesondere hat er durchzusetzen, dass seinem Mandanten die Gelegenheit gegeben wird, sich im Zusammenhang zu dem Anklagevorwurf zu äußern.26 Störende Unterbrechungen durch inquisitorische Fragen seitens des Vorsitzenden muss er beanstanden und ggf. einen Gerichtsbeschluss herbeiführen, um dem Mandanten die Revisionsrüge des § 338 Nr. 8 StPO zu erhalten.
bb) Verlesung einer schriftlichen Einlassung27
460Besser als eine persönliche Vernehmung des Angeklagten ist die Verlesung einer sorgfältig vorbereiteten Sachdarstellung durch den Angeklagten selbst oder durch seinen Verteidiger. Durch diese Vorgehensweise besteht die Gewähr, dass alle aus Sicht der Verteidigung bedeutsamen Umstände konzentriert vorgebracht werden können.28 Die Frage ist, wie verfahren werden soll, wenn das Gericht oder der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft ergänzende Fragen stellen oder Vorhalte machen wollen. Unbefriedigend ist die Lösung, über die verlesene Erklärung hinaus keine Fragen zu beantworten und auf Vorhalte keine Angaben zu machen. Dann handelt es sich insoweit um ein Teilschweigen, welches als Beweisanzeichen zum Nachteil des Angeklagten verwertet werden kann. Dem ist vorzuziehen, dass der Verteidiger in einer derartigen Situation den Vorsitzenden um eine Unterbrechung nachsucht und jede Frage und jeden Vorhalt mit seinem Mandanten eingehend bespricht. Nach Wiedereintritt in die Verhandlung können dann entweder der Verteidiger oder der Mandant selbst ergänzende Angaben machen. Diese Vorgehensweise ist legitim. Der Umstand, dass der Angeklagte oder sein Verteidiger eine Frage oder einen Vorhalt erst nach Beratung beantwortet haben, darf nicht zu Ungunsten des Angeklagten gewürdigt werden. Sonst würde das Recht des Angeklagten auf Verteidigerkonsultation nach §§ 136 Abs. 1 S. 2, 137 Abs. 1 S. 1 StPO völlig entwertet werden.
461Sollte der Vorsitzende einem Antrag auf kurzfristige Unterbrechung der Hauptverhandlung zum Zwecke der Verteidigungsberatung nicht nachkommen, ist er unmissverständlich darauf hinzuweisen, dass der Angeklagte gem. § 137 Abs. 1 S. 1 StPO das Recht hat, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistandes eines Verteidigers zu bedienen und gem. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO jederzeit seinen Verteidiger zu befragen. Lenkt der Vorsitzende nicht ein, ist ein Gerichtsbeschluss herbeizuführen. Nur diese Vorgehensweise ermöglicht es, in einem etwaigen Revisionsverfahren die unzulässige Beschränkung der Verteidigung gem. § 338 Nr. 8 StPO zu rügen. Der Beschluss ist im Hinblick auf die Anforderungen an entsprechende Verfahrensrügen (vgl. § 344 Abs. 2 S. 2 StPO) schriftlich zu beantragen. Die inkriminierte Frage bzw. der Vorhalt sind in dem Antrag möglichst wörtlich aufzuführen. Hierzu muss der Vorsitzende um eine Unterbrechung ersucht werden. Kommt der Gerichtsvorsitzende auch diesem Antrag nicht nach, muss auch über diese Verfahrensfrage ein Gerichtsbeschluss herbeigeführt werden. Aus den bereits genannten Gründen muss auch der neuerliche Verfahrensantrag schriftlich vorbereitet werden. Auch dies wiederum bedarf der Unterbrechung der Hauptverhandlung. Sperrt sich der Vorsitzende auch diesem wiederholtem Unterbrechungsantrag, kann nur noch seine Ablehnung wegen der Besorgnis der Befangenheit die Rechte des Mandanten wahren.29
cc) Schriftliche Einlassung als verlesbare Urkunde
462Beide Vorgehensweisen, sowohl die persönliche Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung als auch die Verlesung einer schriftlich vorbereiteten Stellungnahme zum Anklagevorwurf durch den Angeklagten oder die Verteidigung, haben neben den bereits dargestellten Mankos folgenden Nachteil: Die Verteidigung kann in einem etwaigen Revisionsverfahren den Inhalt der vom Mandanten in der Hauptverhandlung abgegebenen Einlassung nicht beweisen. Die Rüge, dass sich der Angeklagte in diesem oder in jenem Punkt anders geäußert habe als in den Feststellungen des tatrichterlichen Urteils angegeben und dass das angefochtene Urteil deshalb auf einer Verletzung des § 261 StPO beruhe, scheitert ausnahmslos bereits an dem „Verbot der Rekonstruktion der Beweisaufnahme“, die der Zulässigkeit der Rüge entgegensteht.30
463Dem Irrtum des Tatrichters über den Inhalt der Einlassung oder deren entstellende oder lückenhafte Darstellung in den Urteilsgründen kann der Verteidiger dadurch zu begegnen versuchen, dass er gemeinsam mit dem Mandanten eine schriftliche Äußerung zum Anklagevorwurf ausarbeitet und der Mandant diese unterzeichnet. Sodann kann er diese zweifelsfrei vom Mandanten stammende schriftliche Einlassung zu den Akten reichen. In der Hauptverhandlung beantragt der Verteidiger sodann, das Schriftstück als Urkunde zum Beweis darüber zu verlesen, dass der Mandant in diesem Schreiben die dort enthaltene Einlassung abgegeben habe. Der Antrag muss jedoch neben dem Beweismittel, der zu verlesenen Urkunde, auch den Inhalt der in der Urkunde enthaltenen Einlassung des Angeklagten, so genau wie möglich, am besten wörtlich, mitteilen. Nach BGH NStZ 2008, 527 handelt es sich jedoch bei einem derartigen Antrag nicht um einen Beweisantrag, weil der Umstand, dass und wie sich der Angeklagte schriftlich erklärt hat, keine Beweistatsache i.S.d. § 244 Abs. 2–5 StPO ist. Das Gericht ist jedoch nicht daran gehindert, die vom Angeklagten stammende schriftliche Erklärung zu verlesen. Es wird zu prüfen haben, ob die Verlesung aus dem Gesichtspunkt der Amtsaufklärungspflicht geboten ist. Schweigt der Angeklagte zur Sache und verliest das Gericht dessen schriftliche Erklärung, ist die Äußerung zur Sache für die Revisionsinstanz „festgeschrieben“.
464Diese Verfahrensweise hat den weiteren unschätzbaren Vorteil, dass die Sacheinlassung des Mandanten trotz dessen Schweigens in die Hauptverhandlung eingeführt wird, ohne dass er den inquisitorischen Fragen des Gerichts und des Staatsanwaltes ausgesetzt und seine Einlassung damit aus Sicht des Gerichts, insbesondere der Laienrichter, tatsächlich oder vermeintlich „widerlegt“ wird. Die Einreichung einer solchen schriftlichen Einlassung vor Beginn der Hauptverhandlung und der Versuch, deren Verlesung als Urkunde herbeizuführen, ist den anderen Möglichkeiten der Äußerung zur Sache daher vorzuziehen.